70 Jahre Befreiung des KZ Auschwitz

Rede vom Sprecher des „Bündnis für Humanität und Toleranz“ zur Gedenkveranstaltung in Kamenz am 27. Januar 2015

Sehr geehrte Damen und Herren,
Am 27. Januar 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee die Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Dieser Tag war für die Überlebenden das Ende des Holocaust.
Aber wann und womit begann der Holocaust? Christa Wolf lässt Kassanda in ihrem gleichnamigen Roman sagen: „Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern.“ Wie der Holocaust endete, das weiß man, aber wann begann der Vor-Holocaust?KZ Gedenkstätte Kamenz
Ab Januar 1933 begann in Deutschland die geplante und systematische Ausgrenzung von Juden aus dem öffentlichen Leben. Jüdische Geschäfte wurden boykottiert. In Städten tauchen Parkbänke mit der Aufschrift auf: „Nur für Arier“. Ortseingangsschilder mit der Aufschrift „Hier sind Juden unerwünscht“ wurden aufgestellt. 1935 wurde die Ausgrenzung in den Nürnberger Gesetzen in angebliches Recht festgeschrieben. Juden durften auf offener Straße geschlagen und gedemütigt werden. Jüdische Kinder wurden in der Schule ausgegrenzt. 1938 brannten in Deutschland die Synagogen. Die weiteren historischen Ereignisse sind bekannt. Wir gedenken heute der Opfer dieser fürchterlichen Ausgrenzungspolitik, die in den Gaskammern von Auschwitz und anderen Lagern endete.
„Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ Dieser Satz des amerikanischen Philosophen Joseph Santayana mahnt uns, nicht geschichtsvergessen zu werden. Damit verbunden ist der Appell und die Pflicht, aus der Geschichte zu lernen. Haben wir gelernt?
Schaut man sich die Entwicklung in unserem Land an, kann man Zweifel bekommen, ob wirklich aus der Geschichte gelernt wurde. Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Hoyerswerda, NSU-Morde. Das sind die markantesten Ereignisse einer langen Kette von rassistisch motivierten Terrorakten. Seriöse Quellen gehen von 184 Tötungsdelikten seit 1990 aus. Damit wird nicht gesagt, dass sich der Holocaust wiederholt, er soll auch nicht relativiert werden. Es geht darum, den Blick auf den Beginn zu richten. Die Opfer dieses neuen Terrors kennt man, die Täter kennt man vielfach noch nicht. Aber wann fängt Terror an?
Im Herbst letzten Jahres wurde eine Asylbewerberin aus Tunesien und ihr 6-jähriges Kind in Bautzen ohne ersichtlichen Grund rassistisch beschimpft und geschlagen. Wo ist der Unterschied zur öffentlichen Demütigung von Juden 1933? Hier geht es nicht um Quantität der Straftaten, sondern hier geht es um das Motiv, um die Geisteshaltung des Täters.
In einer Grundschule in Bautzen haben deutsche Eltern versucht zu verhindern. dass Kinder von Asylbewerbern in die gleiche Klasse gehen, wie das eigene Kind. Fährt man durch kleine Städte – auch hier in der Region – sieht man Bettlaken, auf denen steht: „Asylheim: Nein Danke!“ Was ist dieses Bettlaken anderes als die Ortseingangsschilder 1933: „Hier sind Juden unerwünscht!“?
In einigen Städten werden geplante Unterkünfte für Asylbewerber angezündet oder wie hier in der Nachbarschaft unter Wasser gesetzt. 2014 gab es 158 Gebäudeübergriffe in ganz Deutschland.
In Großröhrsdorf hat sich ein junger Mann selbst verletzt und der Polizei erzählt, er sei von Ausländern angegriffen worden. Wie viel Hass auf Ausländer und wie viel Energie zur Volksverhetzung steckt in solch einer Straftat?
Ich stellte die Frage, wann beginnt Terror, Ausgrenzung und Hass auf Minderheiten? Er beginnt auch mit solchen rassistisch motivierten Straftaten, wie ich sie gerade aufgezählt habe.
Der amerikanische Soziologe und Politikwissenschaftler Daniel Goldhagen formulierte in seinen Thesen zur Ursache des Holocaust und zur Schuldfrage 1996 sinngemäß: Schuld am Holocaust waren nicht nur die aktiven Täter. Schuld waren auch alle Deutschen, die allzu bereitwillig weggeschaut haben. Weggeschaut haben, wenn plötzlich Juden vom Arbeitsplatz verschwanden, weggeschaut haben, als Juden keine Parkbänke mehr benutzen durften, geschwiegen haben, wenn jüdische Mitschüler aus Schulen verschwanden, weggeschaut haben, wenn Juden auf offener Straße schikaniert wurden.
Aus der Geschichte lernen heißt, sie nicht zu wiederholen. Sich schuldig machen heißt auch, allzu bereitwillig wegzuschauen, wenn Menschen in unserer heutigen Gesellschaft ausgegrenzt werden, angegriffen werden oder gar getötet. Aus der Geschichte lernen heißt heute: schauen wir genau hin, was passiert und erheben wir unsere Stimme gegen den Beginn des Terrors. Das sind wir den Opfern des Holocaust schuldig. Wir sind nicht schuldig geworden am Holocaust, aber wir haben Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft unserer Gesellschaft.
Hier sind vielfältige positive Zeichen zu erkennen. Beispielsweise haben Bündnisse in Bautzen, Neukirch, Bischofswerda, Großröhrsdorf, Sohland, Hoyerswerda und auch hier in Kamenz sich zum Ziel gesetzt, eine Willkommenskultur weiterzuentwickeln. Dialog statt Ausgrenzung, Akzeptanz statt Verachtung, Mitmenschlichkeit statt Hass, Widerstand gegen Ausländerfeindlichkeit statt Wegschauen.
Ich schließe mit einem Wort von Dietrich Bonhoeffer: „Die Ehrfurcht vor der Vergangenheit und die Verantwortung gegenüber der Zukunft geben fürs Leben die richtige Haltung.“